"Dieses Pferd ist für mich kein Pferd,
sondern ein Freund, es ist kein Besitz. Soll ich einen
Freund verkaufen? Nein, das kommt nicht in Frage."
Der
Mann war arm und hatte allen Grund, der Versuchung zu
erliegen, aber er verkaufte das Pferd nie.
Eines
Morgens entdeckte er plötzlich, dass das Pferd
nicht mehr im Stall war.
Das ganze Dorf versammelte sich und alle sagten:
"Das
hast du nun davon, du alter Narr! Wir haben es vorher
gewusst, eines Tages musste das Pferd ja gestohlen werden!
Denn wie hättest du bei deiner Armut einen solchen
Schatz richtig behüten können? Du hättest
besser daran getan, das Pferd zu verkaufen. Du hättest
astronomische Summen dafür verlangen können,
jeden Phantasiepreis! Jetzt ist das Pferd weg. Jetzt
siehst du, was für ein Fluch, was für ein
Unglück es für dich war."
Der
alte Mann sagte:
"Ihr
müsst nicht übertreiben! Sagen wir einfach:
Das Pferd ist nicht im Stall. Das ist die einzige Tatsache,
alles andere ist Interpretation. Ob es nun ein Unglück
ist oder nicht, wie wollt ihr das wissen? Wie könnt
ihr das beurteilen?"
Die
Leute sagten:
"Uns
kannst du nichts vormachen. Wir mögen zwar keine
großen Philosophen sein, aber hier braucht man
auch keine Philosophie. Es ist eine klare Tatsache,
dass ein Schatz verloren gegangen ist, und das ist
ein Unglück."
Der
alte Mann erwiderte:
"Ich
bleibe dabei: Die einzige Tatsache ist, dass der Stall
leer ist und das Pferd fort ist. Darüber hinaus
weiß ich nicht, ob Unglück oder Segen, denn
so ein Urteil ist begrenzt und niemand weiß, was
noch kommt. "
Er
wurde ausgelacht.
Die
Leute hielten den alten Mann für verrückt,
Sie hatten es schon immer gewusst, dass er nicht richtig
im Kopf war, sonst hätte er ja sein Pferd verkauft
und in Saus und Braus gelebt... Stattdessen fristete
er sein Leben als Holzfäller. Obwohl er sehr alt
war, fällte er immer noch Bäume, brachte das
Holz aus dem Wald und verkaufte es. Er lebte jetzt von
der Hand in den Mund, hatte nur das Nötigste und
nie wirklich genug. Aber jetzt war ihnen das endgültig
klar, dass er verrückt war.
Nach
vierzehn Tagen kam plötzlich eines Nachts das Pferd
zurück. Es war nicht gestohlen worden, es war
nur in die Wildnis gelaufen. Es kam nicht nur zurück,
sondern es brachte auch noch zwölf andere Wildpferde
mit.
Und
wieder kamen die Leute zusammen und sagten:
"Alter,
du hast Recht gehabt, wir haben uns geirrt. Es war kein
Unglück, sondern ein Segen. Es tut uns leid, dass
wir dir Vorwürfe gemacht haben."
Und
der alte Mann sagte:
"Ihr
geht schon wieder zu weit. Könnt ihr nicht einfach
sagen, dass das Pferd zurück ist und dass es zwölf
andere Pferde mitgebracht hat? Warum urteilt ihr? Wer
will wissen, ob es ein Segen ist oder nicht? Es ist
nur ein Bruchstück, und wenn man den ganzen Zusammenhang
nicht kennt, wie kann man dann urteilen? Wie könnt
ihr über ein Buch urteilen, wenn ihr nur eine Seite
gelesen habt? Wie könnt ihr über eine ganze
Seite urteilen, wenn ihr nur einen Satz gelesen habt?
Wie könnt ihr über einen Satz urteilen, wenn
ihr nur ein Wort davon gelesen habt? Und was ihr in
der Hand haltet, ist weniger als ein Wort - das Leben
ist so unendlich! Ihr habt nur das Bruchstück eines
Wortes in der Hand und habt über die ganze Welt
geurteilt. Sagt also nicht, dass dies ein Segen ist,
denn wer weiß.... Und ich bin völlig damit
zufrieden, dass ich es nicht weiß. Lasst mich
also bitte in Ruhe."
Dieses
Mal hielten die Leute den Mund. Vielleicht hatte der
alte Mann ja wieder Recht.
Also sagten sie nichts, aber im Stillen wussten sie
natürlich, dass er sich irrte.
Zwölf
herrliche Pferde waren mit dem einen Pferd zurückgekommen!
Wenn sie ein bisschen eingeritten wurden, könnten
sie bald alle verkauft werden und massenhaft Geld einbringen.
Der
alte Mann hatte einen jungen Sohn, es war sein einziger.
Dieser Sohn begann nun die Wildpferde zu zähmen.
Eine Woche später stürzte er von einem der
Pferde und brach sich beide Beine.
Wieder kamen die Leute zusammen. Und die Leute sind
überall die "Leute" und überall
sind sie wie ihr. Und wieder urteilten sie sofort. Wie
schnell so ein Urteil feststeht!
Sie
sagten:
"Du
hattest Recht. Was du geahnt hast, hat sich wieder einmal
bestätigt. Es war kein Segen, es war doch ein Unglück.
Dein einziger Sohn hat seine Beine verloren! Wer soll
jetzt die Stütze deiner alten Tage sein? Jetzt
bist du ärmer denn je."
Der
alte Mann sagte:
"Könnt
ihr denn nicht ein Mal aufhören mit eurem Urteil?
Ihr geht schon wieder zu weit...sagt einfach, dass mein
Sohn seine Beine gebrochen hat. Keiner weiß, ob
das nun ein Glück oder ein Unglück ist. Keiner!
Es ist wieder nur ein Bruchstück, und wir bekommen
nie mehr als ein Bruchstück zu sehen. Das Leben
zeigt sich nur in Fragmenten, aber unsere Urteile fällen
wir immer über das Ganze."
Ein
paar Wochen später geschah es, dass ein Krieg mit
dem Nachbarland ausbrach, und alle jungen Männer
wurden zur Armee eingezogen. Nur der Sohn des alten
Mannes blieb zurück, weil er ein Krüppel war.
Die Leute kamen zusammen, weinend und klagend, denn
aus jedem Haus wurden die jungen Männer mit Gewalt
abgeholt. Und es bestand keine Aussicht, dass sie je
wiederkämen, denn das Land mit dem Krieg geführt
wurde, war ein sehr großes Land, und die Schlacht
war von vorneherein verloren. Also würden sie nicht
zurückkommen... Das ganze Dorf weinte und klagte
und sie kamen zu dem alten Mann und sagten:
"Wie
Recht du hattest Alter! Weiß Gott, wie Recht du
hattest, es war ein Segen: Dein Sohn mag zwar ein Krüppel
sein, aber wenigstens bleibt er bei dir. Unsere Söhne
werden wir nie wieder sehn. Er wenigstens lebt und ist
bei dir, und nach und nach wird er schon wieder das
Laufen lernen. Vielleicht wird er noch ein bisschen
humpeln, aber er wird wieder in Ordnung kommen."
Der
alte Mann wehrte ab:
"Es
ist einfach unmöglich, mit euch Leuten zu reden.
Ihr könnt es einfach nicht lassen - ewig diese
Urteile. Niemand weiß etwas! Sagt doch nur, dass
eure Söhne in die Armee geholt worden sind und
mein Sohn nicht. Aber ob das nun ein Segen ist, oder
ein Unglück, das weiß niemand. Kein Mensch
wird das je wissen. Nur Gott allein weiß es."
Und
wenn wir sagen: "Nur Gott weiß es",
dann heißt das, dass nur das Ganze es weiß.
Urteile nicht, sonst wirst du dich nie mit dem Ganzen
vereinigen können. Dann wirst du immer nur an den
Bruchstücken kleben und aus den geringsten Anlässen
große Schlüsse ziehen. Wie leicht vergisst
du, dass es Dinge gibt, die über deinen eigenen
Horizont hinausgehen.
Also
urteile nie!
 |
|
Ihr
Bankkonto, das Spiegelbild Ihrer Seele (live)
von
Andreas Ackermann
Ein
wichtiger Schritt in Richtung Wohlstand, Reichtum
und Lebensqualität.
Hörbuch
als MP3 downloaden
und ein E-Book
gratis |